Ein Gespräch mit Nils Franke, Autor der Urtext Primo-Reihe

1. Was ist die Urtext Primo-Reihe?

Urtext Primo ist für Klavierschüler, Klavierlehrer und Liebhaber der Klaviermusik gedacht. Jedes Heft vereint drei verschiedene Komponisten, die durch bestimmte Aspekte oder Themen miteinander in Beziehung stehen. Band 2 zum Beispiel enthält Werke von Haydn, Mozart und Cimarosa, alle drei schrieben ihre Klavierwerke in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Haydn spielte aber auch Streichquartette mit Mozart und dirigierte Opern von Cimarosa. Band 4 vereint Werke von Schumann, Brahms und Theodor Kirchner, die sowohl persönlich als auch stilistisch miteinander in Verbindung stehen.


2. Was sind die Besonderheiten von Urtext Primo?

Jedes Heft enthält Stücke unterschiedlicher technischer und musikalischer Ansprüche in einem überschaubaren Schwierigkeitsrahmen, der in der Entwicklung eines Schülers etwa zwei bis drei Jahre Unterricht abdeckt. Während dieser Zeit können die Schüler immer wieder auf diese Bände zurückgreifen. Die Anschaffung lohnt sich daher unmittelbar.

Jedes Heft innerhalb der Reihe enthält spezielle Informationen zur Aufführungspraxis sowie Spiel- und Übetipps, manche sogar von den Komponisten selbst, wie zum Beispiel eine Fingerübung, die Mozart Hummel aufgab, oder Hinweise von Liszt zum Legato-Spielen.

Gemeinsam ist allen Bänden die Kombination von Werken des Standard-Repertoires mit weniger bekannten Stücken. Diese vermittelt den Benutzern einerseits den Zugang zu bekannten Werken großer Komponisten, andererseits gibt sie die Gelegenheit, ebenso interessante Stücke aus einem weniger eingeführten Repertoire kennen und spielen zu lernen.

3. Wie sollen Schüler und Lehrer diese Sammlung benutzen?

Dies kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen. Zum Beispiel im Sinne einer fortlaufenden Reihe, die man von Zeit zu Zeit um einen Band erweitert. Dadurch können sich Schüler und Lehrer ihre persönliche Bibliothek wichtiger Unterrichtsliteratur aufbauen. Die Bände können unter verschiedenen Aspekten herangezogen werden: Händels Prélude in d aus HWV 437 kann beispielsweise zur Entwicklung eines artikulierten Spiels verwendet werden, es kann als wirkungsvolles Vortragsstück aber auch zur Entfaltung improvisatorischer Fähigkeiten eines Spielers dienen. Überhaupt können viele der Stücke zu unterschiedlichen Zwecken benutzt werden, je nach dem entsprechenden Lernziel. Im fünften Band ist ein unvollendetes Albumblatt von Liszt mit Vorschlägen, wie Schüler es selbst fertigkomponieren können. Es ist logisch, vom Improvisieren auf das Komponieren zu kommen, und beides hat seine Bedeutung im modernen Klavierunterricht.

4. Welche Überraschungen im Repertoire hält die Serie für Lehrer und Schüler bereit?

Eine ganze Menge! Überraschungen gibt es in jedem Band der Serie.

Händels Klavierwerke etwa sind großartige Musik, auch wenn sie im Unterricht bislang noch seltener Verwendung finden als sie sollten. Die Stücke sind sehr klaviergemäß geschrieben. Als Komponisten braucht man Händel zwar nicht vorzustellen, aber nur wenige seiner Klavierwerke sind Bestandteil des eingeführten Unterrichtsrepertoires.

Cimarosas Sonaten in Band 2 sind erstaunlich gute Musik. Sucht man kurze, individuelle, einprägsame und geistreiche Stücke, so sind diese Werke genau richtig. Und die Reihe hat noch mehr von dieser Art zu bieten, wie zum Beispiel ganz konzertant klingende, aber gut zu spielende Musik von Theodor Kirchner, dem Freund von Johannes Brahms.

Aber Überraschungen gibt es nicht nur bei den weniger bekannten Komponisten. Schauen Sie sich einmal die Auswahl der Stücke von Liszt und Chopin an! Hier sind ein– bis zweiseitige Miniaturen, von denen manche kaum im Unterricht benutzt werden. Das möchte ich ändern, denn Liszt ist nicht nur für „Klaviertiger“.

5. Gibt es persönliche Lieblingsstücke in den bereits veröffentlichten Bänden?

Nun, das ist eine schwierige Frage. Ich denke zum Beispiel an Händels Prélude in G HWV 442 mit seiner Kühnheit (dabei ist es für junge Spieler relativ leicht zu bewältigen), an Scarlattis Sonate in C K. 95 mit ihren übergreifenden Händen, an Haydns Andante in A Hob. I:53/II mit seiner musikalischen Vielfalt oder an Cimarosas Sonate in c C. 68 mit ihrem unmittelbar ansprechenden Reiz. Aber dies sind sehr persönliche Vorlieben. Viele Schüler und Lehrer mögen andere Stücke bevorzugen aus ebenso triftigen Gründen. Mein persönlicher Favorit ist das Andante in Des von Liszt: eine Seite, das Thema aus der ersten Ballade als Albumblatt. Das ist Liszt pur.

6. Wie soll die Reihe ausgebaut werden?

Insgesamt soll die Reihe ein Repertoire vom 18. bis zum 20. Jahrhundert umfassen und damit ein breites Spektrum abdecken als Basis eines sinnvoll angelegten Klavierunterrichts. Die Idee dabei ist, nicht nach einem starren Schema vorzugehen. Vielmehr sollen nach überschaubaren Schwierigkeitsstufen eingeteilte Stücke angeboten werden, die für Schüler und Lehrer eine individuelle Gestaltung des Unterrichts erlauben. Als jemand, der seit vielen Jahren Klavier unterrichtet und seit 15 Jahren in der Ausbildung von Klavierlehrern tätig ist, habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, wie wichtig Kenntnis und Auswahl von Repertoire sind. Musik zu finden, die die Fantasie des Spielers anregt, ist ausschlaggebend für das Lernen und den Lernerfolg eines Schülers im Klavierunterricht.

7. Was sind die nächsten Bände?

Ich bastle gerade an Band 6, der drei Klavierpädagogen der Vergangenheit zusammenfasst: Clementi, Czerny und Cramer. Gerade bei Czerny gibt es so viele tolle kurze Stücke, die im Unterricht (noch) keinen Platz haben. Und danach geht’s im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert weiter.

Urtext Primo soll den Unterrichtskanon der Klaviermusik reflektieren, neu durchleuchten, und ausbauen. Mein Ziel ist, dass die Werke, die einbezogen werden, sich hervorragend zum Ausbau der Technik eignen, ein richtig gutes Verständnis von musikalischen Stilen vermitteln und schöne, kurze Musikstücke sind, die man wirklich gerne hört und spielt. Es gibt also etliches zu tun.

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